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letzter Beitrag vom 8.1.2010

Zwischen den Jahren im sagenhaften Zug

Wer wie ich, nicht rechtzeitig für billige Flugtickets gesorgt hat, muß sich mit der zeitaufwendigen Variante des Reisens begnügen und trotz ehrbarer Schonung der Umwelt noch einen stolzen Preis entrichten. Daß ich durch diesen Umstand in einen so bekanntes Verkehrsmittel geraten würde hatte ich natürlich nicht erwartet. Allerdings ist vom Luxus vergangener Tage nichts mehr zu spüren gewesen. Der Orientexpress ist einfach nur ein schmutziger und verkommener Nachtzug, der in Ortschaften, deren Namen ich bisher noch nicht gehört hatte sehr seltsame Gestalten unterschiedlichster Nationalität aufnimmt und sie gegebenen Falls auch wieder in die Winterkälte auf unbeleuchtete Bahnsteige entläßt. Sicher, es gibt auch Liegewagen, doch die Reisenden in diesem Zug, in dem bezeichnender Weise auf die erste Klasse verzichtet wird, begnügen sich gerne mit einem unbequemen Sitzplatz, um die Kosten so gering wie möglich zu halten.

In meiner unmittelbaren Umgebung saß eine ältere Dame Slowenischer Nationalität, die von Koffern und Kisten umgeben war, die sie unmöglich alle auf ein mal zu transportieren in der Lage gewesen sein könnte. Sie sprach trotz später Stunde sehr lebhaft und eindringlich in stark akzentuiertem Deutsch auf die Reisenden ein, die noch ihre Augen offen halten konnten. Einen kleinen Russischen Jungen, der sich an seine schlafende Mutter anlehnte hinderte sie mehrmals am Bohren in der Nase, so daß er schnell mit seinem Kopf Zuflucht unter einer Jacke suchte.

Im weiteren Verlauf gelang es der Dame sich in ein Gespräch mit einem wohlerzogenen jungen Deutschen festzubeißen. Dieser hatte vor, eine Großstadt zu erreichen, von deren Flughafen ein Flieger nach Tallinn abheben sollte, welcher ihm die Zusammenkunft mit seiner Verlobten ermöglichen würde. Er schwärmte nicht nur von der geliebten Dame, sondern auch von der kleinen Republik Estland, deren Sprache zu erlernen er bereit sei. Allerdings erwähnte er auch die Schwierigkeiten, die dieser Wunsch mit sich bringt, denn es ist kompliziert einen Lehrer zu finden, der eine Sprache unterrichtet, die gerade einmal eine Million Menschen auf der Erde sprechen. Ein in finanzieller Hinsicht lohnenswerter Kurs kommt da nicht zustande.

Die ältere Dame Slowenischer Herkunft stimmte lauthals in die Problemdiskussion ein. Sie selbst, deren Heimatdorf an der Österreichischen Grenze liegt hatte in ihren frühen Kinderjahren vor dem Ende des zweiten Weltkrieges nur ein Mischmasch von Österreichisch und Slowenisch gelernt, um später, nach dem Krieg zwangsweise Serbokroatisch in der Schule zu lernen. Jetzt, wo sie schon viele Jahrzehnte in Deutschland lebt, ist sie der Slowenischen Sprache ihres Heimatdorfes nicht mächtig. Und es kommt noch schlimmer, sie sprach es in Trauer aus, sie kann überhaupt keine Sprache richtig, sie hat keine Muttersprache. Das war für mich der Inbegriff der Heimatlosigkeit.

Wenigstens konnte ich der Dame später beim Umsteigen mit ihrem üppigem Gepäck behilflich sein, was sie dankend annahm.

Ich habe übrigens auch auf meinem Rückweg den Orientexpress genommen und mußte erfreut feststellen, daß keinerlei Verbrechen an Bord geschahen.

Alles Gute zum Neuen Jahr wünscht Euer JakobSturm

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30.12.2004