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letzter Beitrag vom 8.1.2010

Der Obdachlose in meiner Straße

Der junge Mann sitzt jeden Tag auf einer der steinernen Hauseingangstufen in meiner Straße. Er wechselt höchstwahrscheinlich fast stündliche seinen Platz. Jedenfalls wenn ich einen meiner kleinen Wege gehe, um Dinge des Alltages zu erledigen, so finde ich den Mann mit seinen prall gefüllten Stoffbeuteln auf dem Rückweg vor einer anderen Haustür wieder. Ständig sortiert er seine Habseeligkeiten, kramt Zettel oder kleine Gegenstände aus Beuteln und Hosentaschen und wägt deren Wert ab. Er murmelt dabei fast unhörbar, nur die Lippen bewegen sich. Nach eingehender Diskussion steckt er später alle Dinge zurück in die gleichfarbigen Textilien. Die ganze Erscheinung ist Ton in Ton gehalten. Die Stoffbeutel, die einst als Umweltbeutel schneeweiß an der Supermarktkasse hingen setzen sich kaum von der Haar- und Gesichtsfarbe des jungen Mannes ab. Auch die Kleidung, die sich vermutlicher Weise im unteren Teil aus Bluejeans und weiter oben verdeckt durch einen Mantel zusammensetzt zeigt keinen Kontrast zu Beuteln und Haar. Ich habe nie bemerkt, daß dieser Straßenbewohner einen Passanten anspricht oder zum Betteln ansetzt. Er sitzt auf der Stufe und bastelt an weggeworfenen Zigarettenstummeln solange herum, bis sie sich endlich rauchen lassen. Hin und wieder, wenn ich auf meinen Balkon heraustrete kann ich von oben auf ihn herabsehen. Der Obdachlose ist natürlich ein Blickfang für mich, so ähnlich wie ein vorbeigehendes süßes Mädchen. Doch das Mädchen ist schnell weitergezogen und der Junge sitzt noch immer am gleichen Fleck, sogar dann noch, wenn ich meine Zigarette im Blumenkasten ausdrücke. Die meisten Menschen bringen mit Arbeit Bewegung in ihr Leben. Es ist für sie ein Bedürfnis zu arbeiten. Manche arbeiten mehr als sie wollen andere sogar mehr als sie können. Aber alle Menschen wollen am Ende ihres Lebens auf ein bewegtes Dasein zurückblicken. Es funktioniert aber auch ganz gut, zuzusehen wie andere für einen arbeiten. Das könnte dann vielleicht transportierte Bewegung heißen. Ein Mensch hat demnach ganz besonders viel im Leben bewegt, wenn er Unmengen von Arbeitern für sich schaffen ließ. Das ließe sich natürlich noch weiter führen. Am meisten bewegt hat natürlich derjenige, der viele Menschen für sich sterben ließ. Immerhin sind diese Menschen die ruhmreichsten der Geschichte, die berühmtesten. Ob sie Ramses oder Alexander hießen oder Napoleon oder Hitler, sie haben alle die Möglichkeiten ihrer Zeit voll ausgenutzt und Truppen über Truppen bewegt. Was für ein bewegtes Leben? Doch zurück zum jungen Mann auf meiner Straße. Es gibt genügend fleißige Menschen mit ungenügend aktivem Hirn, die nennen unseren Mitbürger faul und behaupten, der hat es nicht anders verdient. Doch warum wechselt der Obdachlose ständig seinen Platz und archiviert permanent seinen Besitz? Diese Tätigkeiten, die für Außenstehende so unbedeutend wirken sind die Arbeit des jungen Mannes, so bringt er Bewegung in sein Leben. Ich kann keinen Unterschied in der Qualität der Tätigkeit sehen zwischen dem Job einer behördlichen Schreibtischbewacherin und meinem Straßenarbeiter. Der Junge verbringt allerdings viel mehr Zeit an seinem Arbeitsplatz und ein Lohn ist nicht vorhanden.

20.4.2002

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