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letzter Beitrag vom 8.1.2010
erste Welt
erste Welt, heile Welt, gesunde Welt
tauendes Eis auf sauberem See

Zivilcourage

Gelegentlich bin ich mir nicht sicher, in welcher Welt ich lebe. Sollte es wirklich nur die kleine Auswahl zwischen erster zweiter und dritter Welt geben? Hin und wieder vermischt sich alles und ich finde mich im hauptstädtischen Berlin in allen Welten wieder.
Die folgende Begebenheit liegt schon einige Jahre zurück, doch ich kann es mir nicht verkneifen sie hier vorzustellen:

Kurz vor halb sechs verließ ich das Theater, wir hatten als sonntäglichen Nachmittagsvorstellung die "Hochzeitsnacht im Paradies" gegeben. Mit den letzten, sich langsam fortbewegenden älteren Zuschauern betrat ich die vielbefahrene Straße am traditionsreichsten Verkehrsknotenpunkt der Stadt.
Einst pulsierendes Herz, später lästiger Grenzübergang für Minderheiten und zum Zeitpunkt des Geschehens übelste Baustelle - Berlin Friedrichstraße.
Ich betrat das Bahnhofsgebäude und wollte mich auf den unteren Bahnsteig zur Nord-Süd-Bahn begeben. Bis zum heutigen Tag überkommt mich ein wohliges, erhabenes Gefühl, wenn mich meine Schritte zu diesem Bahnsteig führen.
Doch in der von Baugerüsten verzierten Bahnhofshalle, gleich hinter den Fahrkartenschaltern mußte ich zusehen, wie ein energischer Europäer mit einem Asiaten raufte. Ich war nicht in Eile und beobachtete das Geschehen, um mich von der Harmlosigkeit der Auseinandersetzung zu überzeugen. Der kräftig gebaute Mann, der allen akustischen Auswürfen nach ein Urberliner zu sein schien war mit einer abgeschürften Lederjacke bekleidet. Mit hoher Stirn und lose herunterhängendem strähnigem Haar rüttelte er wie wild an dem um einiges kleineren Asiaten, dessen Herkunftsland mit sicherheit Vietnam war und der höchst warscheinlich, wie viele seiner Landsleute den Lebensunterhalt mit illegealem Verkauf von Zigaretten bestreiten muß.
Plötzlich bemerkte ich, wie sich aus der wegschauenden, dahinhastenden Menge ein anderer Mann löste, und den beiden Raufern mir in der Bahnhofshallenakustik unverständliche Worte zurief. Ich mußte mich an meinen Kollegen Peter erinnern, der vor nicht langer Zeit in der S-Bahn brutal zusammengeschlagen wurde und für den ich während seiner Arbeitsunfähigkeit eine ganze Menge mehr arbeiten mußte.
Natürlich wollte ich mich auch nicht so einfach in die feige Menge der Wegseher einfügen und so wartete ich, nicht zuletzt ermutigt von der sich einmischenden Stimme, das Geschehen ab, um im Notfall für Hilfe zu sorgen.
Die beiden Raufenden schoben sich inzwischen fest verkeilt quer durch die Halle. Doch plötzlich ließ der Lederbejackte eine Hand von dem Vietnamesen und schlug mit dieser freigewordenen Faust brutal ins Gesicht des Kontrahenten. Der Geschlagene, sichtlich erschrocken wich nun schneller zurück und so landeten die Beiden in Blitzesschnelle in einem kleinen unübersichtlichen Raum in dem sich einige zerbeulte Gepäckschließfächer befanden. Keiner der Passanten hatte nun mehr die Chance die Prügelei zu verfolgen. Schnell eilte ich den Beiden nach, denn ich hatte nun wirklich Angst um das Leben des Vietnamesen und hätte es einen Toten gegeben, so hätte die Tat nicht aufgeklärt werden können, denn einen Zeugen aufzubringen währe nicht möglich gewesen.
dritte Welt
dritte Welt, schmutzige Welt, böse Welt
Nilwasser in ehemaligen Bewässerungskanälen
Ich sah den blutenden Vietnamesen von seinem immer weiter schlagenden Gegner in die Ecke des kleinen Raumes gedrängt. Ich mußte dem Treiben irgendwie ein Ende bereiten. Mit meiner energischsten Stimme rief ich laut: "Raus hier aus der Ecke!"
Zu meiner Überraschung funktionierte diese einfache Taktik. Mein Ruf verfehlte nicht seine Wirkung, der Mann mit der Lederjacke ließ erschrocken von seinem Opfer ab und wandte sich mir zu.
Noch im gleichen Augenblick rannte der blutverschmierte Vietnamese die Situation nutzend davon. Der Mann mit der Lederjacke begann vorsichtig seine Tätlichkeiten zu rechtfertigen. Er erklärte, bei einem Zigarettengeschäft nicht genügend Wechselgeld von dem Vietnamesen erhalten zu haben. Mich interessierten die Ausführungen wenig und ich war gerade dabei, den uneinsichtigen Platz zu verlassen um endlich mit Rettergefühlen im Bauch zum geliebten Bahnsteig der Nord-Süd-Bahn zu gelangen. Doch nun geschah etwas unerwartetes.
Ein anderer Mann kam mir entgegen und drängte mich zurück in den kleinen Raum mit den Schließfächern. Es war der schlanke Mensch mit dem verstaubtem Wuschelhaar, den ich zuvor in der Bahnhofshalle als Rufer bemerkte. Doch ich hatte mich geirrt, seine Worte sollten nicht, wie ich vermutete den Vietnamesen beschützen, sie feuerten den Schläger an. Es waren also zwei Raufbolde, vor denen ich den armen Zigarettenhändler rettete. Doch das half mir in dieser Situation sehr wenig. Ich war plötzlich eingekreist von zwei schmutzigen Männern mit kräftiger Alkoholfahne, die nun von mir den strittigen Betrag aus dem Zigarettenhandel einforderten, der sich noch dazu in jedem nachgeschobenen Satzfetzen nahezu verdoppelte.
Ich hatte nicht die geringste Lust auf eine Auseinandersetzung und schon garnicht auf Prügel. Deshalb hielt ich es wie der Vietnamese und ergriff die Flucht, solange es noch möglich war.
Ich ging eiligen, festen Schrittes durch die Halle. Ein Sprint erschien mir zu diesem Zeitpunkt völlig unnötig, doch die Beiden folgten mir und der mit der Lederjacke, der vor wenigen Augenblicken den Vietnamesen so brutal geschlagen hatte erdreistete sich, mir von hinten einen Hieb mit der flachen Hand gegen den Kopf zu versetzen, so daß meine Mütze zwischen die Beine der vielen Passanten auf den Boden flog. Nur weil ich erst vor wenigen Tagen diese Mütze erwarb und ich sie nicht nur als teuer, sondern auch als sehr schön empfand, konnte ich nicht sofort davonrennen. Ich wollte die lederne Kopfbedeckung unter keinen Umständen diesen Männern überlassen. Ich griff jedoch mehrmals vergeblich nach dem guten Stück denn der Schlanke mit dem immernoch verstaubtem Wuschelkopf stampfte mit seinen unappetitlichen Schuhen auf der Mütze herum. Mir blieb keine Wahl, ich griff auf meine bewährte Taktik zurück und rief mit der vor kurzem noch erfolgreichen Stimme: "Polizei! So ruft doch jemand die Polizei!"
Doch diesmal konnte mein lauter Satz nichts ausrichten. Bei den beiden Raufern hatte ich inzwischen an Autorität verloren, der Überraschungseffekt klappt eben nur einmal und die vielen Passanten versuchten mich und die Unholde möglichst schnell und unauffällig zu umkurven. Nicht Einer war bereit mir zur Hilfe zu eilen.
Nur die Frau, welche am Würstchenstand bediente rief mir zu: "Gehen sie doch raus zum Taxistand."
Glücklicherweise erwischte ich nun doch meine Mütze und konnte die Flucht vortsetzen, was mir auch als sehr nötig erschien, denn einen Moment später hätten mich vermutlich die ersten Schläge getroffen. Da ich mich jedoch auf dem ersehnten Bahnsteig nicht in Sicherheit glaubte, denn die Möglichkeit auf die Gleise gestoßen zu werden konnte ich nicht ausschließen, befolgte ich den Rat der Frau und lief hinaus zum Taxi-Stand. Die Beiden hatten sich meine Verfolgung in den Kopf gesetzt und hielten sich in bedrohlichem Abstand von mir auf.
Jetzt sprach ich im Lauf einen Taxi-Fahrer an, er möge doch die Polizei alarmieren. Doch dieser überhörten meine Worte mit starrer Miene. So lief ich um die Autos herum, wie beim Fangespiel und wiederholte mein Anliegen. Keiner der sich langweilenden, auf Fahrgäste wartenden Taxi-Fahrer schaute mir in die Augen, geschweige denn unternahm jemand etwas.
Ich kam zu der Erkenntnis, daß man mich inzwischen schon zu den Raufbolden rechnete. Wer sich mit Asozialen einläßt ist selbst asozial. Ein normaler Bürger kommt nicht in eine solche Situation. Der hat es nicht anders verdient.
zweite Welt
zweite Welt, Zwischenwelt, sichere Welt?
Feuerschutz ohne Wasser in der Laberstr.
in Gera
Ich drehte so einige Runden um die mit Sprechfunk ausgestatteten Taxis und mein Verfolger drehten die Runden mit. Mir blieb keine andere Möglichkeit, ich mußte den Rückzug in mein Theater wagen. Ich sprintete also über die Straße zum Bühneneingang. Ich wußte, daß dort ein netter Kollege in der Pforte sitzt, auf den ich zählen konnte. Ich sprang also schnell ins Gebäude, machte die kleine, bis zum Gürtel reichende eiserne Gittertür, die eigentlich kein großes Hindernis darstellt hinter mir zu und rief dem Diensthabenden aufgeregt zu, daß er die Polizei anrufen müsse. Dieser zögerte und wollte ersteinmal wissen, weswegen er zu diesem Mittel greifen sollte. Ja, so ohne weiteres ruft nicht mal ein guter Bekannter die Polizei. Erst als einer der Raufbolde in der Tür stand griff mein Pförtner zum Hörer. Der Lange, verstaubte Wuschelkopf war sichtlich verdutzt, mich hier beschützt zu sehen und Blieb prompt auf die Drohung meines Kollegen, Anklage wegen Hausfriedensbruch zu stellen vor der Gittertür stehen. Da dieser nicht wissen konnte, daß ich zum Haus gehöre, verlangte er diese Anklage auch gegen mich zu stellen. Doch wie gesagt, ich gehörte zum Haus, zum Glück, ein Anderer hätte an diesem Fleck keinen Schutz gefunden.
Erst jetzt hatte der Pförtner die Nummer gewählt und übergab mir den Hörer. Ich sollte selbst mit der Polizei sprechen, was ich dann auch tat. Mein sonst so gewandter Empfangschef am Bühneneingang hatte nicht den Mut mit den Staatsorganen zu korrespondieren.
Der Raufbold entfernte sich erst nach einigen Aufvorderungen von der Tür und erklärte dabei, mir aufzulauern um mich mit seinem Kumpan zu verprügeln. So wartete ich beim Diensthabenden im Pförtnerkabuff auf das Eintreffen der Polizei.
Zehn Minuten später, als ein anderer Kollege seinen Heimweg antreten wollte, schaute dieser in unserem Auftrag kurz nach draußen und bestätigte, daß die Raufbolde noch immer auf der Straße vor dem Theater warteten.
Die Polizei erschien und ich erklärte ausführlich die Angelegenheit. Eigentlich wollte ich nur beschützt zu meinem Bahnsteig gelangen doch die Beamten wollten unbedingt die beiden Raufbolde sehen, die inzwischen natürlich durch den Anblick der Polizeiautos vertrieben, nicht mehr an besagtem Platz verharrten.
Die Uniformträger bestanden darauf, daß ich mit ihnen zusammen zum Bahnhof gehe, um meine Wiedersacher zu suchen. Und tatsächlich, in der Halle liefen wir den Beiden über den Weg. Ich wiederholte, daß ich an einer Anzeige nicht interessiert sei, doch jetzt war der Amtsschimmel in vollem Gang und die Personalien wurden aufgenommen. Bei mir geschah das problemlos, bei den armen Prügelteufeln gestaltete sich der Papierkram jedoch relativ schwierig, da sie sich lange sträubten, die Ausweise zu zeigen.
Auf die Frage nach Zeugen verwies ich auf die Frau am Würstchenstand. Doch die Verkäuferin bestritt, den Vorfall näher beobachtet zu haben. Sie stand als Zeugin nicht zur Verfügung.
Ich verstand die Frau gut, erstens hatte sie Angst vor eventuellen Racheakten und zweitens würden sie nur noch im Gerichtssaal sitzen, wenn sie zu jeder Begebenheit aussagen würden.
Als die Polizisten genügend Zettel ausgefüllt hatten, durfte ich endlich zu meinem Bahnsteig gehen. Doch die beiden Prügelburschen konnten sich jetzt auch frei bewegen und hefteten sich schon wieder an meine Fersen. So fühlte ich mich nicht sicher vor Tätlichkeiten der Beiden. Ich zog es vor zurück zu meinem Pförtner zu gehen.
Wieder wurde ich bis zur Tür begleitet und mußte Prügeldrohungen über mich ergehen lassen. Doch dieses mal ließ ich die Quälgeister lange vor dem Theater warten, denn ich benutzte einen versteckten Ausgang, der auf eine Nebenstraße führte. Von dort lief ich dann bequem zur Straßenbahnhaltestelle in die Oranienburger Straße.
Der gerettete Vietnamese war die Beschwerlichkeiten wert.

18.3.2002
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