home, Inhalt,
letzter Beitrag vom 8.1.2010

Der Bauwagen

Eines Tages erschienen drei Dorfjungen am Turm. Für das Rasieren war es bei ihnen noch zu früh, doch die Wässerchen aus der Werbung, die gegen Pubertätspickel helfen sollen, könnte der eine oder andere von ihnen schon vertragen.
Ich bin den Burschen schon mehrmals am Bushaltestellenhäuschen begegnet. Dort saßen sie oft, voller Neugier und langer Weile auf der zerschlissenen Bank. Die frechen Blicke, die besonders bei dem kleinen Rothaarigen keck aus dem Gesicht blitzten, hielten mich nicht vom freundlichen Grüßen ab. Im Gegenteil, ich hegte schon damals gewisse Sympathien für die Jungen, die immer brav meinen Gruß erwiderten. Erst wenn ich einige Schritte von ihnen entfernt war, hörte ich dieses freudige Gelächter hinter mir, welches sicher sofort verstummt wäre, wenn ich mich umgedreht hätte. Doch ich gönnte den Kindern den Spaß, der ihnen vielleicht die endlose, unausgefüllte Freizeit etwas verkürzen könnte.
Der Gruß auf dem Lande findet übrigens nach seinen eigenen Regeln und Besonderheiten statt und ist mit Begrüßungen in der Großstadt nicht zu vergleichen. Die kleine Wortgruppe "guten Tag!" hat nichts anderes zu bedeuten als "gut Freund!" oder "ich bin bereit dich nicht zu schlagen, wenn du es auch nicht vor hast!".
Prinzipiell hat die Einzelperson die Gruppe zuerst zu grüßen, da sie bei einer Prügelei die schlechteren Karten hätte. Außerdem ist das Alter der sich begegnenden Menschen von großer Wichtigkeit. Der Jüngere muß wegen seiner noch schwach ausgebildeten Muskeln zuerst grüßen, um sich vor dem Angriff des Stärkeren zu schützen. Ein junger Großstädter, der bei einer Begegnung dem älteren Dorfbewohner im Wald den Gruß aus Unachtsamkeit verweigert, gerät sofort in den Verdacht der Gewalttätigkeit, der Arroganz und der mangelnden Ehrfurcht vor dem Alter. Das kann dem Städter egal sein, doch wenn er am Abend das Wirtshaus im Ort besuchen sollte, erhält er den Eindruck, die Dorfmenschen seien verstockt und wortkarg.
Ich grüße sehr gerne freundlich und ernte ein nettes Gespräch beim abendlichen Bier in der Dorfkneipe. Ich grüße sogar Jugendliche, die noch nichts geleistet haben, die überall stören und Ärger machen und die zu grüßen laut Regelement keiner verpflichtet ist und ich als Fremder schon garnicht.
Doch Freundlichkeit hat auch seine Schattenseiten. Freundliche Menschen ernten nicht nur Wohlwollen sondern büßen auch etwas von ihrer natürlichen Autorität ein, was den Drang nach ungewollter Nähe zur Folge haben kann. So erkläre ich mir jedenfalls das Auftauchen der drei Dorfjungen bei mir am Turm. Mit einem verschmitztem und einem verschämtem Lächeln starteten sie ihre Bitte.
"Also, wir brauchen Strom, weil wir hier hinten auf der Wiese unseren Bauwagen hinstellen. - Wir haben gefragt und dürfen. - Für unsere Anlage brauchen wir dann Strom und da wollten wir Sie fragen, ob Sie uns nicht ein Kabel rüberlegen können."
Ich sollte also Nachbarn bekommen. Die bedeutsame Wiese war leider nicht in meinem Besitz und ich konnte den Jungs diesen Platz nicht verwehren, zumal sie wirklich vom Bauern die Erlaubnis eingeholt hatten. Ich könnte den Jugendklub nur durch den Stromentzug etwas ruhig stellen und hoffte ersteinmal, dass die Bushäuschenkinder es nicht zu Wege bringen würden, einen Bauwagen aufzutreiben und ihn dann auch noch in diese Position zu befördern. Ich überlegte sogar, die Wiese für ein paar Euro zu pachten, um die Jungen von meinem Turm fernzuhalten, wegen der begehrten Landruhe.
Doch als sich tatsächlich der klapprige Wagen, wie von Geisterhand bewegt, meinem Grundstück näherte, verflogen all meine böse-Onkel-Gedanken. Ich gab der Neugierde nach und untersuchte das Schauspiel genauer. Hinter dem Bauwagen pressten und schoben vier verschwitzte Gestalten mit glücklichen Gesichtern, die mich an meine Kinderjahre erinnerten. Jetzt stand es fest, den schimpfenden Alten, der mir früher so oft die Jugendfreuden vermieste, den wollte ich nicht geben.

10.2.2002
Inhalt