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letzter Beitrag vom 8.1.2010

Die Tür

Als ich vor einigen Jahren mit meiner Freundin eine neue Wohnung im Prenzlauer Berg bezog, da stellten wir einen Mangel an der zukünftigen Behausung fest. Die beiden großen Zimmer verfügten über keine direkte Verbindung. Wir erkannten allerdings an den Unebenheiten im Mauerwerk, daß einst eine Flügeltür diese Räume fast zu einem kleinen Saal verwandelt haben muß. Ich riß also das Füllmaterial aus der zugemauerten Öffnung und begann mit dem Einbau der geschichtenerzählenden Tür, die ich irgendwo in einem Lagerraum noch zu stehen hatte.
Seit meiner Kindheit ist eine kleine Haushälfte in der Ruppiner Schweiz in unserem Familienbesitz. Das kleine Dorf mit den 17 Häusern war mein liebster Ferien- und Wochenendaufenthaltsort und auch später fuhr ich gerne mit den Kindern in das kleine Häuschen. In der anderen Haushälfte wohnte das aus Fritz und Erna bestehende ortsansässige Rentnerpaar. Erna, die im Sommer meine damals erst vierjährige Tochter gerne zu ihrem prall gefüllten Kirschbaum führte, um ihr die Äste aus erntetechnischen Gründen herabzubiegen war die erste, die von uns ging. Ich war der letzte, der sie lebend sah, als ich ihr zur letzten Fahrt in den Krankenwagen half. Fritz war jetzt für unser oft leerstehendes Häuschen der alleinige Schutzengel.
Einige Jahre später war ich wieder einmal mit meiner Tochter im Häuschen. Nach einem längeren Spaziergang, den wir mit einer Spielgefährtin aus dem Dorf unternahmen, kehrten wir im Abendsonnenschein in die liebgewonnenen Gemäuer zurück. Ich machte Abendbrot für die Kinder, die danach zusammen in der Bodenkammer schlafen durften. Als alles getan war und ich zwei Schläferinnen unter dem Dach glaubte, wollte ich mir ein Bier im nachbardörflichen Wirtshaus genehmigen. Ich ging in die inzwischen dunkele Nacht, hinüber zum alten Stall, um mir ein Fahrrad zu nehmen. Dabei fiel mir ein Licht im Schuppen des Nachbarn Fritz auf. Ich schaute etwas genauer hin und sah die Schuppentür halb geöffnet. Mein prüfender Blick sank etwas tiefer und ich entdeckte die grob gestrickte Pudelmütze von Fritz auf dem Boden liegend. In der Vorahnung, daß etwas schlimmes passiert sei trat ich vor, bis an den Zaun und konnte nun durch den Türspalt den leblos erscheinenden Körper von Fritz auf der Erde liegen sehen.
Die Gedanken raasten blitzartig durch meinen Kopf. Sollte ich zu ihm eilen und mit Wiederbelebungsversuchen beginnen oder Hilfe holen? Ich glaube, wegen meiner geringen Erfahrung mit dem Tod entschied ich mich für die Hilfe, die ich holen wollte. Ich rannte los und dachte dabei, daß ich eine sinnvolle Entscheidung getroffen hatte obgleich mir klar war, daß alleine meine Feigheit mich geleitet hat.
Unterwegs zum Förster, der aus beruflichen Gründen mit dem Telefonmonopol im Dorf ausgestattet war sah ich noch die Gabriele auf ihrem Hof, die ich energisch aufforderte nach dem leblosen Fritz zu sehen.
Als der Förster nach wildem Gepoche die Tür endlich öffnete, verweigerte er mir zuerst die Benutzung des Telefons. Er sprach, daß er sofort ins Nachbardorf fahren müsse, denn der Kneiper hat angerufen, daß sein Sohn derart besoffen ist und abgeholt werden müßte. Ich ließ mich jedoch nicht abweisen und ging zielstrebig auf den Fernsprechaparat zu um den Notarzt zu rufen.
Als ich auf den Hof von Fritz zurückkehrte standen schon einige Dorfbewohner um meinen liegenden Nachbarn und rauchten. "Da ist nichts mehr zu machen." sagten sie einstimmig. Fritz war tot. Ich konnte es nicht glauben, denn das Gesicht sah so lebendig aus, wie das eines zufrieden schlafenden.
Als die Zigarre des einen Ortsansässigen schon fast aufgeraucht war, traf der Notarztwagen ein. Die Ärztin beugte sich über Fritz und stellte rasch den Tod fest. Als sie jedoch mit der Taschenlampe in die Augen des toten leuchtete, um eventuelle Lebenszeichen zu erkennen, schrie ich nocheinmal auf: "Fritz hat ein Glasauge, das müssen sie bedenken, vielleicht lebt er doch noch." Die Ärztin blieb bei ihrer Erkenntnis und bat uns, den Leichnahm ins Haus zu tragen, da sie einen Toten nicht im Krankenwagen transportieren darf.
Vier Mann, vier Ecken und es ging los. Es sind schon seltsame Geräuche, die ein toter beim Transport abgibt. Durch die Bewegungen entweicht der Lunge Luft und läßt den toten schnarchen. Ich, als ungeübter Totenträger wertete diese Klänge als Lebenszeichen, die mir von den Anwesenden jedoch gleich wieder ausgeredet wurden. So trugen wir den toten Fritz für seine letzte Nacht unter das eigene Dach durch die zweiflüglige Haustür, die jetzt in der Wohnung im Prenzlauer Berg hängt.

Der folgende Morgen begann für mich mit einem nachdenklichen Erwachen. Ich hatte die Nacht unter einem Dach mit dem toten Fritz verbracht. Doch die ahnungslosen Kinder wollten ihr Frühstück bekommen und ich hatte zu tun.
Als wir drei gemeinsam am Tisch saßen und den sonnigen Tag zu uns durchs Fenster scheinen ließen, da fuhr für uns gut sichtbar ein Barkas auf des Nachbars Hof. Ein Barkas, der auch B-1000 genannt wurde ist ein Kleintransporter aus DDR-Produktion, vergleichbar mit dem alten VW-Bully. Das Fahrzeug trug keine verräterischen Aufschriften, doch ich wußte im Gegensatz zu den Kindern, daß es sich um den Wagen des Bestattungsinstitutes handelt. Zwei Männer öffneten die Autotür und zogen eine große Kiste aus dem Barkas, die sie vorsichtig über den Hof trugen.
Die Spielkameradin meiner Tochter verfolgte das Geschehen neugierig und rief: "Was kriegt denn Fritz da für eine Kiste?"
Ich glaubte damals noch die Kinder vor der Bekanntschaft mit dem Tod schützen zu müssen und antwortete: "Ich denke, Fritz bekommt einen Kühlschrank."
"Wat denn, so een großen?" antwortete das Mädchen.
Jetzt übermannte mich die die Neugierde und ich lief aus dem Haus, um dem guten Fritz noch einen letzten Blick zuzuwerfen. Den Kindern verbot ich jedoch den Tisch zu verlassen.
Die beiden Männer hatten den Sarg schon aus der Kiste geholt und ihn im Schlafzimmer abgestellt. Fritz lag friedlich auf dem Bett und sah immernoch so lebendig aus. Die Bestattungsfachleute nahmen den Toten, so wie er war mit einem Ruck hoch und steckten ihn in den Sarg. Doch Fritz wollte nicht hineinpassen in das enge Totenmöbel. Die Leichenstarre war bereits eingetreten und auf dem breiten Bett hatte mein Nachbar mit ausgebreiteten Armen gelegen. Die Fachmänner machten kurzen Prozeß, es knackte einmal, es knackte ein zweites mal und schon paßte der widerspenstige Fritz hinein. Ihm wurde noch ein schönes weißes Leichenhemd über den alten Wollpullover gezogen und schon konnte der Deckel auf dem Sarg vernagelt werden. Die Männer trugen Fritz nun zum Auto, natürlich durch die Flügeltür. Ich lief traurig hinterher und sah noch, wie die Kinder vor dem plötzlich auf dem Hof auftauchenden Sarg zurück ins Haus flohen.
SR-2 Jetzt könnte der Leser denken, daß ich ein Leichenfledderer bin, der sich einfach die Tür aus dem leerstehenden, unbewachten Haus ausbaut, um sie für sich zu nutzen. Ganz werde ich diesen Vorwurf nicht ausräumen können, wenn ich alleine an den SR-2 denke, der jetzt gelegentlich um meinen Turm fährt, doch die Tür habe ich nicht geklaut.
Viele Jahre stand die Haushälfte von Fritz leer. In dieser Zeit fiel die Mauer und die Kinder wurden groß. Doch eines Tages einigte sich die wild zusammengewürfelte Erbgemeinschaft auf einen neuen Besitzer. Ein älteres Ehepaar aus Westberlin modernisierte nun die Gemäuer von Fritz um sich den ersehnten Altersruhesitz zu schaffen. Dabei flog die schöne Flügeltür auf den Müll und mir in die Hände.

28.1.2002
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