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letzter Beitrag vom 8.1.2010

Himmelfahrtsausflug

kleiner Muck 4.5.1989. Der Himmelfahrtstag war für das Land noch kein Feiertag, doch ich hatte frei und nahm den ersten Zug nach Berlin zu meiner Familie.

Hin und wieder schrecke ich hoch, heraus aus den, mir die Fahrt verkürzenden Traumfetzen. Still zähle ich die Stationen. Nur noch eine Stunde von meinem Ziel entfernt schafft es das gleichmäßige Rattern nicht mehr mich so richtig einzuschläfern. Ich richte mich auf, strecke die Arme aus und versuche die Gelenke geschmeidig zu machen. Der erste vorsichtige Blick aus meinen verschlafenen Augen fällt auf den schräg gegenüber sitzenden Reisenden, den einzigen in meiner Nähe. Ein paar Reihen weiter ist ein Murmeln in fremder Sprache zu vernehmen, ansonsten erscheint mir der Wagen leer.
Die Sonne hat es schon zu erstaunlicher Höhe gebracht und kann ungehindert auf mein Gesicht strahlen. Um meine Augen zu schonen ziehe ich den Vorhang zur Hälfte zu, so bleibt mir noch der Blick auf die dahin ziehende, zart begrünte flache Landschaft.
Ich wende mich erneut meinem Gegenüber zu. Meine vorsichtig erwachenden Gehirnzellen entschlüsseln langsam das Bild. Es ist ein Junge, ein kleiner Schuljunge, der nicht älter als zehn Jahre alt sein kann. Neben sich hält er fest umschlungen seinen Schulranzen. Es ist ein wohl genährter, rundlicher Knabe, dessen Kleidung eine gründliche Reinigung nötig hätte. Ich tippe auf ein Eierfrühstück. Das T-Shirt und die Hose sind mit große gelbliche Flecken versehen. Ein Ei alleine kann das nicht gewesen sein.
Die grauen Augen blitzen ängstlich aus seinem Gesicht. Sein Blick tastet im zick-zack das ganze Abteil ab, kreuzt jedoch nie den Meinen. In kurzen Abständen beugt er sich zur Seite, um den Gang zu beobachten.
Hirn und Augen haben sich inzwischen an den Tag gewöhnt und verkünden mir, daß ich es mit einem Ausreißer zu tun habe. Da ich zu schwach bin, um über den Schatten meiner Nationalität zu springen, fallen mir zuerst die staatsbürgerlichen Pflichten ein. Ich muß den Schaffner benachrichtigen.
Doch die wachsende Neugierde verdrängt diesen offiziellen Algorithmus. Ich möchte mehr wissen von dem Jungen, ihm eine Chance geben und ihn eventuell trösten. Ich will ihn nicht verschrecken und überlege noch, wie ich mit ihm umgehe. Können meine Stimmbänder das erste Wort an diesem Tag überhaupt sanft genug aussprechen? Ich könnte mich genau so gut schlafend stellen, ihn nicht beachten, doch bevor er vom Schaffner oder der Polizei aufgegriffen wird wende ich mich an ihn.
"Na, wo willst du denn hinfahren?"
Der Junge reagiert nicht. Sein Blick irrt weiter hastig im Abteil herum. Ich versuche es noch sanfter.
"Hallo, wohin fährst denn du?"
Jetzt hat er mich bemerkt, stößt ein zartes "Was?" aus und sieht mich dabei für einen winzigen Augenblick an. Es war der Blick einer gejagten Antilope. Der Gedanke, daß er nicht antworten kann, weil er wahrscheinlich keine Antwort auf meine Frage hat geht mir durch den Kopf. Ich werfe ihm eine kleine Hilfestellung zu.
"Du willst sicher zur Oma fahren?"
Sein Gesicht hellt sich ein wenig auf, er kann nun "Ja." Sagen. War es ein gelogenes "Ja."? Ich weiß wie bequem es ist, wenn man "Ja." sagen kann, und ein gelogenes "Ja." ist viel befreiender, als ein, einen Schwanz von Fragen hinter sich herziehendes "Nein.". Ich könnte jetzt dem Jungen glauben und ihn in Ruhe lassen, doch frisch und munter habe ich noch lange nicht genug.
"Wo wohnt denn deine Oma?"
Wie nach meiner ersten Frage schweigt der Junge, diesmal konzentriert aus dem Fenster sehend. Der Zug fährt gerade etwas langsamer, an einem kleinen Bahnhof vorbei. Deutlich kann ich den Namen "Zahna" auf dem Schild erkennen. Ein paar lustige Vögel warten an der Bahnschranke mit ihrem geschmückten Leiterwagen, der unter der Last eines Bierfasses auseinanderzubrechen droht. Es ist Himmelfahrtstag. Ich muß schmunzeln bei dem Gedanken, daß der Junge schon sehr früh mit diesen Ausfahrten anfängt.
"Wo wohnt denn nun deine Oma, du mußt doch wissen, wo du aussteigen mußt?"
"Naja, eins nach Zahna." Ist seine klägliche Antwort. Mich reißt es fast vom Sitz vor Vergnügen, doch äußerlich ist mir mein Geisteszustand hoffentlich nicht anzumerken.
"Weißt du, wo wir das nächste mal halten?"
Ein wenig zögere ich, bis ich dann doch die Stille unterbreche und den Namen der Hauptstadt verrate.
"Ja, genau, in Berlin wohnt meine Oma." Kommt es wie aus der Pistole geschossen aus ihm heraus.
Der Junge zeigte sich in keinster weise beunruhigt. Nichts deutete darauf hin, daß er sich ertappt fühlt. Ich atmete tief durch und stellte mir bildlich vor, wie ein kleiner Junge anstatt in die Schule zum Bahnhof läuft und in den erstbesten Zug steigt, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Zum Glück verzichtet der Schaffner erfahrungsgemäß darauf, nach Wittenberg nocheinmal die Fahrscheine zu kontrollieren, sonst säße der Junge schon jetzt im ungemütlichen Dienstabteil. Jetzt spricht mich der Junge an. Er deutet auf meine reichlich gefüllte Trinkflasche und sagt:
"Meine Mutti gibt mir nie etwas zu Trinken mit, wenn ich verreise."
Ich reiche ihm die Flasche, die er auf einen Zug leert. Der Junge ist jetzt richtig aufgelockert und lächelt vertrauensselig, was mich zu neuen Fragen ermuntert.
"Hattest du denn heute keine Schule?" "Nein, die Lehrer sind doch krank."
"Morgen ist Freitag, mußt du dann nicht in die Schule?" "Ich weiß nicht, ob die Lehrer dann wieder gesund sind."
"Wie heißt du eigentlich?" "Daniel."
"Daniel, weiß deine Mutti denn, daß du hier im Zug bist?" "Ja."
"Hast du es ihr gesagt?" "Ich habe es auf einen Zettel geschrieben, in anderer Schrift."
"Deine Mutti wird sich aber Sorgen machen, wenn du nicht nach hause kommst." "Sie ist doch im Krankenhaus."
"Was hat sie denn?" "Sie bekommt ein Baby, daß heißt, sie bekommt Zwillinge und muß solange im Krankenhaus bleiben, bis die Kinder groß sind."
"Dann macht sich dein Vater aber Sorgen." "Einen Vater haben wir nicht."
"Wer kümmert sich denn um dich?" "Gestern hat mir Mutti Milchreis gekocht, der war viel zu süß."
"Ich denke, sie ist im Krankenhaus?" "Ja, gestern ist sie ins Krankenhaus gekommen."
"Hat deine Mutti einen Mann, oder einen Freund?" "Ja, da war einer, doch der ist jetzt im Knast. Er hat Mutti das ganze Geld geklaut und da haben wir die Polizei geholt."
"Wer kümmert sich denn nun um dich?" "Letzte Woche war ich drei Tage im Heim."
"Und wo bist du, wenn du nicht im Heim bist?" "Die Leute im Haus schimpfen immer, wenn wir im Hof spielen."
Das reicht und reicht noch lange nicht. Ich muß eine Pause machen. Das Gespräch ufert aus, in ein Verhör. Daniel ist keine Anstrengung anzumerken, doch mir steht der Schweiß auf der Stirn. Ich wische mit dem Ärmel darüber und versuche mich mit der viel zu langsam dahinziehenden Landschaft zu beruhigen.
Daniel stößt mich sanft an und schaut dabei auf die leere Trinkflasche.
"Meine Mutti gibt mir nie etwas zu trinken mit, wenn ich verreise."
Nach diesem Satz hat er doch schon einmal etwas bekommen. Ich gönne ihm, daß es auch dieses mal klappt.
"Laß uns in die Mitropa gehen und uns dort etwas zu trinken kaufen."
"Gibt es hier soetwas zum einkaufen?"
"Ja, aber erkläre mir doch, wo deine Oma in Berlin wohnt, daß ich dich dort hinbringen kann."
Ich wollte mir hundertprozentig sicher sein, daß die Oma nicht existiert. Es wäre doch fatal, wenn es doch die geheimnisvolle Großmutter gäbe und er sie auf diesem Ausflug nicht treffen würde.
"Zu meiner Oma finde ich alleine."
Während wir uns durch die Wagen zur Mitropa bewegen, lasse ich nicht locker und frage immer weiter.
"Wie fährt man denn nun zu deiner Oma?" "Ich muß da vier Stationen fahren."
"Mußt du mit der U-Bahn oder der S-Bahn fahren?" "Ja."
"Na, mit welcher Bahn mußt du denn fahren?" "Der Zug fährt da unten."
"Also U-Bahn." "Ja."
"In welcher Straße wohnt denn deine Oma?" "Alexanderplatz."
"Wie heißt denn deine Oma?" "Oma."
Im Mitropawagen angekommen bin ich mir entgültig sicher, dabei hätte ich mir so sehr eine Großmutter für Daniel gewünscht.
Die Reisenden in der kleinen Warteschlange beäugen uns skeptisch und ich bemerke an mir ein lästiges Schamgefühl. Es sind die Flecken auf Daniels Kleidern, mit denen ich nicht in Verbindung gebracht werden will.
"Daniel, möchtest du auch etwas essen?"
Der Junge schüttelt den Kopf.
"Hast du denn keinen Hunger?" "Nein, ich habe vorhin auf dem Bahnhof für meine zwei Mark zwei Bockwürste gekauft."
"Aha, dann ist das auf deinem T-Shirt gar kein Ei, sondern Senf."
Ich kaufe Cola für uns und wir ziehen mit lautem Türgeklapper zurück zu unserem Platz. Daniel stillt seinen Durst, ich drehe mir eine Zigarette und wir schauen gemeinsam aus dem Fenster. Ich stelle keine Fragen mehr und die Fahrt nimmt einen gemütlichen Charakter an.
Schau mal hier und schau mal da. Es gibt viel zu sehen. Es steht Vieh auf der Weide, es starten Flugzeuge am Flughafen Schönefeld und es gibt für Daniel erstaunlich viele und große Häuser in Berlin. Der Junge ist begeistert von der U-Bahn und fühlt sich wohl in unserer Wohnung. Ihm schmecken die Speisen und passen die frischen Kleider meiner Kinder. Jedes Spiel macht er mit und beschwert sich nicht einmal daß ich ihn am Abend dann doch zurück zum Bahnhof bringe.
Ich will aber auch sicher sein, daß Daniel in Wittenberg aussteigt und übergebe ihn, wie ein gewissenhafter Staatsbürger dem Schaffner.

Das war schon ein denkwürdiges Erlebnis, doch so hatte Daniel einen schönen Himmelfahrtsausflug und ich schließlich auch.
weiter

herausgekramt und aufgearbeitet für den Himmelfahrtstag 24.5.2001